Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Leserinnen und Leser unseres Rundbriefes,

es wird berichtet, dass ein "Insolvenztsunami" auf die Wirtschaft zukommt.

Die aktuellen Zahlen von Creditreform, die für das erste Halbjahr nochmals einen Rückgang von über 8 % bei den Unternehmensinsolvenzen ausgewiesen haben und einen massiven Anstieg für das zweite Halbjahr voraussagen, könnten dafür sprechen.

Die vor uns stehende "Insolvenzwelle" wird jedoch nicht mit anderen früheren Anstiegen der Insolvenzzahlen vergleichbar sein. Es gibt keine schematische Entwicklung. Die Situation ist eine völlig andere, wie eine Krisen-/Ursachenanalyse zeigt.

Bereits vor dem Ausbruch von Corona hatten wir eine sich ankündigende Finanz- und Strukturkrise, für welche Corona nur den Anlass zum Platzen der Blase gegeben hat. Corona hat eine Gesundheitskrise bewirkt; der Lockdown eine Angebots- und Nachfragekrise. Zusammen mit der (latenten) Nachhaltigkeits- und Sinnkrise ist dieses in einer tiefen Vertrauenskrise kulminiert. 

Vertrauen ist für das Funktionieren einer sozialen Marktwirtschaft, die auf leistungswirtschaftlichen Grundsätzen und Transparenz aufgebaut ist, jedoch elementar.

In diesen Zeiten reüssiert ein alter Irrglaube, dass "Insolvenz etwas Schlechtes sei". Dabei ist die Insolvenz nur der letzte Grad einer wirtschaftlichen Krise. Vorausgegangen sind regelmäßig die Produkt-, die Finanzierungs- und die Liquiditätskrise.

Ein Unternehmen, das nachhaltig Verluste produziert und das Eigenkapital aufgebraucht hat, muss sich spätestens zu diesem Zeitpunkt in einem erfolgreichen Turnaround befinden oder den Markt verlassen. Ein einfaches Weiterwirtschaften würde zu Lasten der Marktteilnehmer gehen, die dieses Risiko nicht kennen und auch nicht eingehen wollen. Dieses Unternehmen würde gesunde Unternehmen infizieren.

Bereits vor der Coronakrise gab es zahlreiche Zombies, also Unternehmen, denen es in den letzten drei Jahren nicht möglich war, ihre Zinsleistungen aus operativen Erträgen zu begleichen. Durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht sind einzelne Unternehmen zu "Superzombies" mutiert, also Unternehmen, die nicht nur überschuldet, renditeschwach, sondern auch zahlungsunfähig sind.

Wenn die Zahl der infizierten Unternehmen und die Höhe der Ausfallschäden durch nicht rechtzeitige Beantragung der Insolvenz weiter steigt, droht in der Wirtschaft ein weiterer Vertrauensverlust. Unternehmen werden gehalten sein, zusätzliche Absicherungs- und Prüfungsmaßnahmen, Vorkasse etc. zu veranlassen. Dadurch werden die Transaktionskosten verteuert, es tritt in der Folge ein weiterer Effizienz- und Wohlstandsverlust ein.

Unternehmen in der Krise müssen sich entweder sanieren, restrukturieren oder, wenn sie nicht überlebensfähig sind, aus dem Markt ausscheiden.

Es gilt das alte Sprichwort,

"Man bekommt die Cholera nur aus der Stadt, wenn man die Leichen von der Straße räumt."

Insofern ist ein funktionierendes Insolvenzverfahren, welches nicht lebensfähige Unternehmen aus dem Markt nimmt, eine maßgebliche Voraussetzung für eine gesunde Marktwirtschaft.

Das Vertrauen muss in den Markt zurückkommen. Man sollte den Unternehmen hierfür einen zeitlichen Korridor geben. Zweckmäßig wäre der 1. Januar 2023. Sie hätten dann genügend Zeit, um sich zu sanieren und zu restrukturieren. Die Wiedereinführung des alten Überschuldungsbegriffs, der die Unternehmen verpflichtet, Insolvenzantrag zu stellen, wenn – bei der jeweils angenommenen Fortführungsprognose – die Vermögenswerte nicht mehr ausreichen, um die Verbindlichkeiten zu decken, kann das Vertrauen in den Markt, in die Leistungsfähigkeit wiederherstellen.

Nicht Insolvenz ist das "I-Wort", sondern Insolvenzverschleppung. Das ist schon aus den Motiven zu dem Entwurf der Deutschen Gemeinschuldordnung (Konkursordnung) Bd. II, von 1873, S. 125 zu entnehmen, wo es heißt,

dass es ein alten Zeiten entstammtes Vorurteil sei, dass das Konkursverfahren als ein Übel zu betrachten sei. Diese Anschauung bedarf sofortiger Klärung. Die Zahlungsunfähigkeit des Gemeinschuldners und der durch sie eingetretene ungesunde Zustand ist das vorhandene Übel; zu dessen Beseitigung es das Verfahren bestimmt, als heilsames Mittel zu dienen. 

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, alle leistungs- und finanzwirtschaftlichen Restrukturierungsmöglichkeiten, gleich ob im präventiven Restrukturierungsrahmen, unter gerichtlicher Aufsicht und/oder im Rahmen eines Insolvenzverfahrens zu nutzen, um die eingetretenen Schieflagen auf allen Ebenen wieder zu beheben. Dafür benötigt es auf allen Seiten unternehmerisches Verständnis, unternehmerischen Einsatz, Kraft und Mut, welchen ich Ihnen für diese Aufgaben wünsche.


Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Rechtsanwalt Jörn Weitzmann
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung
im Deutschen Anwaltverein

Berlin, den 16. Juni 2020

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